11. Kapitel
Bei El Paso, Texas 15. Januar
Steve Garrett lächelte verschmitzt. »Geben Sie’s nur zu, Mark. Tief im Innern vermissen Sie den ganzen Trubel des Hauptquartiers, nicht wahr?«
Mark Beamon seufzte und schob seinen Sitzgurt über dem Bauch zu Recht, dass er es etwas bequemer hatte. »Ach ja, es war schon hart, aber schließlich bekommt man nicht alle Tage die Gelegenheit, für einen Mann von Ihrem Format zu arbeiten.«
Garrett schmunzelte. »Nein, im Ernst, Mark. Sie fangen nicht an, sich zu langweilen?«
»Nicht im Geringsten«, erwiderte Beamon aufrichtig.
Er war erst seit ein paar Monaten als Garretts Stellvertreter in El Paso, aber er fühlte sich bereits wie ein neuer Mensch. Für ihn waren die Agenten in den Außenstellen das eigentliche FBI, und Washington war nur dazu da, um ihnen das Leben leichter zu machen. Unglücklicherweise vertrat man in der obersten Etage genau die entgegengesetzte Ansicht.
Die unverbrüchliche Loyalität der Kollegen und das Zusammengehörigkeitsgefühl untereinander hatten das FBI immer zu etwas Besonderem gemacht, doch in Washington war davon kaum mehr etwas zu spüren. Die FBI-Zentrale wurde mehr und mehr zu einer normalen Regierungsbehörde mit normalen Arbeitszeiten, geleitet von typischen Bürokraten mit Aufstiegsambitionen.
Beamon war überglücklich gewesen, als er entdeckte, dass sein Zynismus von den Agenten im Büro von El Paso nicht geteilt wurde. Sie waren noch mit der gleichen Hingabe dabei, wie er es als junger Mann gewesen war, und er hatte das Gefühl, endlich wieder dort zu sein, wo er hingehörte.
»Ich habe langsam schon geglaubt, diese Kerle im Hauptquartier behalten mich nur für Schießübungen bei sich.«
Sein neuer Chef lachte. »Nun, genug Munition haben Sie ihnen auf jeden Fall geliefert.«
»Na ja, Sie wissen doch, wie das ist.«
Beamon schaute aus dem Fenster auf die ausgedorrte felsige Landschaft. Seine Gedanken gingen zurück zu den letzten Sommertagen nach seinem Highschool-Abschluss vor dreißig Jahren. Das kleine graue Schulhaus, in dem er einen guten Teil seiner Kindheit verbracht hatte, war schon lange abgerissen worden, aber es hatte nicht weit entfernt in dieser Gegend gestanden.
Seine Familie war so stolz gewesen, als er in Yale angenommen worden war und dazu noch ein Stipendium gewonnen hatte. Wie so viele seiner Freunde war er damals der Erste aus der Familie gewesen, der aufs College ging. Die Tatsache, dass er von einer Eliteuniversiät akzeptiert worden war, wusste sein Vater jedoch gar nicht einzuschätzen. Für ihn waren alle Colleges generell majestätische und mysteriöse Institutionen. Bis zu seinem Todestag brüstete er sich jedem gegenüber, der nur zuhörte, dass sein Sohn ins College gegangen sei. Wenn man ihn fragte, in welches, hatte er nur geantwortet, in eines »drüben im Osten«. Woher dieses Unverständnis kam, hatte Beamon nie so recht verstanden.
Am Tag vor seiner Abreise hatte er seine Sachen gepackt und war mit seiner Freundin hinaus in die Wüste gefahren. Mit einem Kasten warmen Bier im Auto über die Wüstenstraßen zu fahren war damals unter den Jugendlichen eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen gewesen.
Er hatte sie nie wiedergesehen. Ihre Eltern waren im Lauf seines ersten Jahres in Yale nach Dallas gezogen. Anfangs hatten sie sich geschrieben, doch die Zeit zwischen den Briefen war allmählich immer länger geworden. Er hatte noch heute vor Augen, wie sie ausgesehen hatte im Licht der untergehenden Wüstensonne. Seltsam, was man sich alles merkte und irgendwo in seinem Hirn aufbewahrte. Es war ihm damals wie ein ganz zentraler Moment in seinem Leben vorgekommen, aber letztlich war es nur eine unbedeutende Episode gewesen.
Das schroffe Klingeln eines Handys unterbrach seine Tagträume, und er bedauerte, wieder in die Realität zurückkehren zu müssen. Es lag noch eine Stunde Fahrt vor ihnen, und danach erwartete sie eine zweifellos sehr lange und sehr öde Besprechung.
Garrett schaltete auf ›Mithören‹ und meldete sich.
»Mr. Garrett, hier ist Bill Michaels. Wir haben soeben die Mitteilung erhalten, dass eine Filiale der Houston National Bank überfallen worden ist. Ein Wächter ist dabei getötet worden. Zwei Polizisten in einem Zivilfahrzeug haben die Verfolgung aufgenommen und fahren in nördliche Richtung nach Limestone, das liegt ungefähr vierzig Meilen westlich von El Paso. Wir schicken Agenten zur Verstärkung.«
Beamon schaute sich aufmerksam um.
»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Bill.«
»Ja, Sir.«
Garrett schaltete ab.
»Wussten Sie, dass ich hier in der Gegend aufgewachsen bin, Steve?«, fragte Beamon.
Garrett warf ihm einen etwas unsicheren Blick zu. »Irgendwer hat das mal erwähnt. Ich glaube, sogar Sie selbst.«
»Außerdem habe ich ungefähr sechs Jahre hier als Agent gearbeitet.«
»Und?«, erwiderte Garrett misstrauisch.
»Na ja, ich könnte schwören, dass wir etwa eine Meile weiter zu einem alten Weg kommen, der nach Limestone führt.«
Garrett schaute ihn ungläubig an.
»Wollen Sie im Ernst vorschlagen, dass ich mich mit dem Wagen meiner Frau in eine wilde Verfolgungsjagd stürze?«
»Herrgott, Steve«, entgegnete Beamon entrüstet, »ich dachte, das sei ein Dienstwagen! Konnten Sie ihr nicht ein Auto kaufen, das ein wenig sportlicher ist?«
Garrett runzelte die Stirn. »Haben Sie eine Waffe dabei?«
»Nee, Sie?«
»Auch nicht.«
Beamon zuckte die Schultern. »Scheiße, Steve, sie müssten inzwischen schon fast Limestone erreicht haben. Wir fahren einfach gemütlich dort rauf, biegen ein gutes Stück hinter den Bullen ein und zeigen uns, nachdem sie die Sache erledigt haben. Sie wissen doch, wie sehr dem Direktor gute Beziehungen zu den örtlichen Polizeibehörden am Herzen liegen. Hier könnten wir ein paar Pluspunkte sammeln, nicht wahr? Außerdem macht so ein kleines Abenteuer Spaß.«
Garrett murmelte etwas vor sich hin, das Beamon nicht verstand, und seufzte. »Okay, wo ist die Abzweigung?«
Beamon lächelte. »In ein oder zwei Minuten müssten wir sie auf der linken Seite sehen.«
Sie kamen über eine Anhöhe und entdeckten tatsächlich einen schmalen Weg. Garrett bog darauf ein und verlangsamte das Tempo, bis er unter vierzig Meilen fuhr. Gleichzeitig griff er nach dem Telefon und drückte eine einprogrammierte Nummer.
»Bill Michaels, bitte.«
»Bill? Hier ist Garrett. Informieren Sie die Polizei, dass Mark Beamon und ich gerade unterwegs sind auf der Straße …« Er schaute Hilfe suchend zu Beamon, doch der reagierte nicht.
»Ach, ich weiß nicht. Irgendeine Straße, die nach Limestone führt.«
Beamon bemühte sich zu hören, was am anderen Ende der Leitung erwidert wurde, aber da der Wagen nicht daran gewöhnt war, auf solchen unbefestigten Straßen zu fahren, dröhnte der Motor derart, dass es unmöglich war, etwas zu verstehen.
»Genau. Wir müssten … wann in Limestone sein?« Beamon hielt sechs Finger hoch. »In sechs Minuten. Ich fahre einen blauen Ford Taurus 92. Sagen Sie ihnen, sie sollen nicht auf mich schießen.«
Die Radaufhängung des Ford bewährte sich tapfer auf der alten Straße, obwohl der Unterboden alle paar Minuten über Felsbrocken schabte. Garrett zuckte jedes Mal zusammen, als könne er die Kratzer am eigenen Leib spüren.
Beamon wusste, dass er sich keinen Gefallen damit tat, seinen neuen Boss in dieses Abenteuer hineinzuziehen. Doch der Gedanke, dass ein paar junge Beamte allein einem Killer hinterherjagten, gefiel ihm überhaupt nicht. Und außerdem würden sie jetzt ihre Besprechung versäumen.
»Wir müssten ziemlich bald auf die Straße treffen, also passen Sie gut auf. Wenn ich mich recht erinnere, läuft dieser Weg direkt darauf zu.«
Garrett beugte sich etwas vor und blinzelte durch den Staub, den die Wagenräder aufwirbelten. Auf der linken Seite sah man den Rücken eines Felskamms, und aus nördlicher Richtung war plötzlich das kaum wahrnehmbare Heulen einer Sirene zu hören.
»Scheiße, wir scheinen dichter dran zu sein, als wir dachten.« Garrett bremste und verringerte das Tempo noch weiter.
»Geräusche kann man hier draußen schlecht einordnen – dieser Streifenwagen könnte überall sein«, sagte Beamon und versuchte, ganz ruhig zu klingen.
Vor ihnen tauchte die Kreuzung auf, die in einem ehemaligen Bachbett lag, und gleichzeitig endete der Felskamm zu ihrer Linken. Garrett bog so weit nach links, wie er konnte, ohne auf den felsigen Wegrand zu geraten, und schlug das Steuer scharf nach rechts ein.
In diesem Moment schoss ein dunkelgrüner Buick mit einer Geschwindigkeit heran, dass ein Zusammenstoß unvermeidlich schien. Beamon hielt sich instinktiv am Armaturenbrett fest, während Garrett die Bremse durchtrat und das Lenkrad stärker nach rechts einschlug. Die Reifen fanden in dem losen Geröll jedoch keinen Halt, und der Wagen schlitterte weiter vorwärts.
Haarscharf kamen sie an einer Katastrophe vorbei. Nur die vordere Stoßstange rammte das Heck des Buick, der dadurch ins Schleudern geriet und schließlich gegen einen Felsen an der linken Straßenseite prallte.
Wenig später erschien auch der Wagen, dessen Sirene sie gehört hatten, und bremste hinter ihnen ab. Beamon hatte Recht gehabt mit den Geräuschen in der Wüste – der Ton war von dem niedrigen Felskamm reflektiert worden, sodass sie den Eindruck gehabt hatten, das Fahrzeug sei in unmittelbarer Nähe.
Beide Männer stiegen hastig aus, und Garrett hielt seine Dienstmarke hoch. »FBI!«, brüllte er aus voller Kehle – nur für den Fall, dass man die Polizisten nicht informiert hatte. Erschrocken ließ er sie fallen, als ein Schuss die Windschutzscheibe des Wagens seiner Frau zerschmetterte.
Beamon hechtete in den Straßengraben und begann auf den Polizeiwagen zuzukriechen.
»Mark, alles okay?«, schrie Garrett. Eine ganze Salve von Schüssen folgte auf seine Frage.
Sie schienen von dem Wagen zu kommen, den sie gerade von der Straße gedrängt hatten. Beamon hoffte, dass es nicht wieder eine akustische Täuschung war und dass die Bullen ihre Waffen dabeihatten.
»Ja, und Sie?«, rief er zurück.
»Klar.«
Inzwischen war er links unterhalb des Polizeiwagens und konnte aus dem gut einen Meter tiefen Graben gerade noch das Blaulicht sehen.
»He, Jungs! Ich bin Mark Beamon vom FBI. Habt ihr einen Anruf gekriegt, dass wir zu euch stoßen?«
»Ja, Mr. Beamon. Ich glaube, Sie können ruhig raufkommen.«
Beamon bemerkte, dass die Schüsse aufgehört hatten. Er rappelte sich auf die Knie und spähte über den Grabenrand. Wie das Glück es wollte, stand der Wagen schräg auf der Straße, und seine vordere Stoßstange war nur ungefähr anderthalb Meter entfernt. Der Schütze war nirgends zu sehen. Vermutlich kauerte er hinter seinem Buick, um nachzuladen.
Beamon sprang aus dem Graben und rollte auf den Polizeiwagen zu, wobei er zu seinem Leidwesen bemerkte, dass das nicht mehr so mühelos ging wie früher einmal. Das Fett, das er im Hauptquartier angesetzt hatte, war seiner Beweglichkeit nicht gerade förderlich.
Schließlich lag er auf dem Rücken hinter einem Vorderreifen und schaute auf in ein erschrockenes junges Gesicht.
»Alles in Ordnung, Sir?«
»Bis jetzt schon.« Beamon stemmte sich auf die Knie und klopfte den Staub ab. Ein Polizist, der ein wenig älter war als sein Kollege, spähte um die hintere Stoßstange des Fahrzeugs.
Beamon deutete auf die Waffe des jüngeren Beamten. »Eine 357er mit einem Zehnzentimeterlauf«, bemerkte er so beiläufig, als hätten sie alle Zeit der Welt, um in Ruhe zu fachsimpeln.
»Ja, Sir«, erwiderte der junge Polizist. »Ist etwas nicht in Ordnung damit?«
»Wissen Sie, ich habe nur eine alte 38er dabei«, log Beamon. »Würden Sie mir vielleicht Ihre leihen und das Gewehr nehmen?«
»Kein Problem, Sir«, sagte er und reichte ihm die Pistole.
Beamon prüfte die Waffe sorgfältig, während der Polizist das Gewehr aus dem Wagen holte. Er war schon in jungen Jahren Schießausbilder gewesen und einer der besten Schützen des FBI. Zwar hatte er ewig kein nennenswertes Training mehr absolviert, aber Schießen war wie Fahrrad fahren, das verlernte man einfach nicht.
»Können Sie irgendwas sehen?«, fragte er den Polizisten, der um die Stoßstange spähte.
»Nicht wirklich, Sir. Das Auto des Verdächtigen steht schräg zu uns, ungefähr fünfunddreißig Meter entfernt, die Hinterräder stecken in einem Graben. Wahrscheinlich sitzt er dahinter. Kann ja nirgendwo hin, ohne seine Deckung zu verlassen.« Er wich etwas zur Seite, damit Beamon besser sehen konnte. Auf dem Namensschild an seiner Uniform stand O’ROURKE.
Beamon schaute um die Stoßstange und sah Garrett, der mit dem Rücken gegen einen Felsen lehnte und nicht besonders glücklich dreinschaute, als er mit verschränkten Armen seinen Blick erwiderte.
»Alles okay, Steve?«
Sein Chef antwortete nur mit einer obszönen Geste.
Beamon zog sich wieder zurück und holte tief Luft. Die beiden Polizisten warteten gespannt und hofften offensichtlich, dass er das Kommando übernahm.
»Wie sieht es mit Unterstützung aus, Jungs?«
»In zehn bis fünfzehn Minuten«, erwiderte O’Rourke.
Beamon wusste, dass es das Klügste wäre, einfach auf Hilfe zu warten. Dagegen sprach allerdings, dass er wenig Lust hatte, schmutzig und hinter einem Auto versteckt von Kollegen gefunden zu werden. Alles in allem wäre das nur geringfügig besser, als eine Kugel in den Arsch zu bekommen.
»Hör mal, Junge«, brüllte er zu dem Wagen des Verdächtigen hinüber, »es steht jetzt vier gegen eins, und die Lage wird für dich nicht besser. Warum kommst du nicht einfach mit erhobenen Händen raus, und wir machen der Sache ein Ende, ehe unser Einsatzkommando aufkreuzt? Das sind nämlich alles äußerst reizbare Typen.«
Er spähte erneut um die Stoßstange, um zu sehen, ob seine Worte irgendeine Wirkung zeigten. Das schien nicht der Fall zu sein. Doch plötzlich krachte ein Schuss, und er ging hastig in Deckung.
Als sein Herzschlag sich so weit beruhigt hatte, dass sein Gehirn wieder funktionierte, fiel ihm auf, dass der Verdächtige überhaupt nicht hinter dem Wagen aufgetaucht war. Worauf hatte er dann geschossen?
»Ich glaube, der Kerl hat sich gerade selbst eine Kugel verpasst«, meinte er. Die beiden jungen Polizisten schauten ihn beinahe hoffnungsvoll an.
»Warum peilt nicht mal einer von euch die Lage?«
O’Rourke umfasste energisch seine Waffe und wollte losgehen. Beamon streckte einen Fuß aus und versperrte ihm den Weg.
»Das war ein Scherz, Junge. Mensch, ihr Burschen müsst dringend ein bisschen lockerer werden.«
»Ich würde mit Vergnügen gehen, Sir.«
Beamon glaubte ihm aufs Wort.
»Nein, ich gehe. Ihr gebt mir Deckung.«
Er überzeugte sich ein letztes Mal, dass die Luft rein war, und rannte zu Garrett hinter den Felsen.
»Was meinen Sie?«, fragte Garrett, der mit seinen verschränkten Armen aussah, als sei er drauf und dran, eine Siesta zu halten.
»Ich glaube, der Kerl hat sich erschossen.«
»Na, klasse! Wann ist unsere Verstärkung hier?«
»In etwa zehn Minuten. Ich denke aber, ich gehe mal rüber und schaue nach.«
Garrett schien von diesem Plan nicht gerade angetan. »Halten Sie das wirklich für klug, Mark?«
Für klug hielt er es zwar nicht, doch von solchen Überlegungen hatte er sich noch nie aufhalten lassen. »Ich hab keine Lust, ausgelacht zu werden, weil ich mich vor einer Leiche verstecke.«
Den Blick starr auf den Buick gerichtet, ging er langsam los. Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, dass die beiden Polizisten mit schussbereiten Waffen hinter der Motorhaube ihres Wagens kauerten.
Im Abstand von etwa dreißig Metern schlich er um den Buick herum. Er mochte vielleicht ein wenig eingerostet sein, aber es gab immer noch wenige, die aus dieser Entfernung besser schießen konnten als er.
Die Straße hinter dem Wagen kam langsam in Sicht. Er konzentrierte sich darauf, möglichst entspannt zu bleiben und gleichmäßig zu atmen.
Ein Fuß wurde sichtbar, und Beamon erstarrte. Er wartete einige Minuten, ob sich etwas rührte, ehe er vorsichtig weiterging. Selbst aus dieser Entfernung war zu sehen, dass der Boden neben dem Bein verfärbt und feucht war. Beamon beschleunigte seine Schritte, bis er schließlich den Mann sah. Er war tot.
Er senkte die 357er und ging näher heran. Die Schädeldecke fehlte, und neben einer immer noch rauchenden Crackpfeife lag eine 9-mm-Pistole im Staub. Beamon starrte auf das rechte Bein des Mannes. Der gesamte Unterschenkel fehlte.
»Er ist tot!«
Garrett erschien hinter seinem Felsen. O’Rourke und sein Partner tauchten hinter dem Wagen auf, hielten aber nach wie vor ihre Waffen schussbereit.
Beamon konnte seinen Blick nicht von dem Beinstumpf wenden. »War irgendwas Ungewöhnliches an der Beschreibung dieses Kerls, als sie über Funk kam?«
Die beiden Polizisten schauten einander an. »Eigentlich nicht. Männlich, weiß, Mitte dreißig, ungefähr eins achtzig groß.«
»Das war alles?« Beamon sah schon die Titelseite einer Zeitung vor seinem geistigen Auge, auf der ein wenig schmeichelhaftes Foto von ihm prangte. Darunter stand die Schlagzeile:
FBI TREIBT UNSCHULDIGEN IN DEN SELBSTMORD
»Nein, warten Sie mal. Es hieß noch, dass er stark gehinkt habe.«
Beamon ging zum Wagen und schaute durch die offene Tür der Beifahrerseite. Der Vordersitz war leer. Er beugte sich nach hinten. Eine Papiertüte voller Bargeld war zwischen die Sitze gerutscht. Darauf lag eine Beinprothese.
Vor gut einer Woche war Swenson nach Mexiko abgereist. Um sich die Langeweile zu vertreiben, hatte Hobart Kontakt mit seinen Männern aufgenommen und sich ausführlich Bericht erstatten lassen, hatte die Buchführung auf den neuesten Stand gebracht – und nach drei Tagen war unglücklicherweise alles Wichtige erledigt gewesen. Danach schien sich die Zeit endlos zu dehnen.
Die Tatsache, dass er nicht nach Hause konnte und ein ungutes Gefühl hatte, wenn er in Lokale ging, die er sonst regelmäßig besuchte, vergrößerte noch seine Unruhe. Er fühlte sich wie eingesperrt in seinem eleganten Büro, wo er CNN schaute und Schach gegen den Computer spielte.
Sobald sein Verstand nicht beschäftigt war, fing er an, sich Sorgen zu machen, und alle möglichen Gedanken gingen ihm durch den Sinn. Was war mit seinen Männern, die über die ganzen USA verteilt waren? Würde man sie fassen? Und wenn ja, würden sie ihn verpfeifen? Sicher, zwar wusste keiner von ihnen, wo er war oder wie man mit ihm Kontakt aufnahm, doch wenn das FBI erst einmal seinen Namen kannte, hatte man natürlich einen Ansatzpunkt. Und er hatte lange genug mit dem FBI zusammengearbeitet, um widerwillig anzuerkennen, dass diese Burschen zäh, ausdauernd und ausgesprochen clever waren.
Immer wieder dachte er auch an Reed Corey. Wie hatte er nur diesen dummen Fehler machen können, ihn entwischen zu lassen? Dabei war er eigens nach Kolumbien gefahren, um ihn anzuheuern, weil er einer der besten Soldaten war, den er je gekannt hatte – und nach ihrem ersten Treffen hatte er ihn als hirntoten Kokser abgetan.
Wie hieß das alte Sprichwort? Im Nachhinein ist man immer klüger.
Hobart hielt zwar nicht viel von den Drogenbaronen, die in ihren Festungen in den kolumbianischen Bergen saßen – seiner Ansicht nach waren alle miteinander dummer Pöbel –, er war aber auch nicht gerade scharf darauf, von ihnen gejagt zu werden.
Außerdem machte ihm auch noch der Ablauf der geplanten Operation Sorgen. Bei einem Unternehmen in derart großem Maßstab musste man zwangsläufig mit Pannen rechnen. Welche könnten das sein?
Hobart wandte sich wieder dem Schachspiel auf dem Monitor zu. Es brachte nichts, herumzusitzen und sich endlose Katastrophenszenarien auszumalen. Schon bald genug würden Agenten des FBI und Killer des Kartells hinter jedem Telefonmast lauern. Er versuchte, sich auf das Spiel zu konzentrieren, aber es fiel ihm zunehmend schwerer.
Um drei Uhr riss ihn das Klingeln des Telefons aus seinen Grübeleien. Hastig hob er ab. »Clipper City Antiques and Oddities.«
Trotz der schlechten Verbindung erkannte er durch das Rauschen Swensons Stimme. »Na, wie steht’s?«
Hobart blickte auf das VU-Meter neben dem Telefon. Es zeigte ihm, dass er nicht abgehört wurde. »Die Frage ist, wie läuft’s bei dir? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
»Ich glaube schon.«
Hobart runzelte die Stirn. »Was heißt das, du glaubst?«
»Na ja, eigentlich bin ich zu neunundneunzig Prozent sicher. Penna hat mir die ungefähre Lage der Raffinerie genannt, die als privater Flugplatz getarnt ist, und ich habe ihn auch gefunden, aber ich kann nicht sehr dicht ran, weil er auf freiem Gelände liegt. Ich beobachte alles aus ungefähr hundertfünfzig Metern Entfernung mit einem Fernglas – deshalb kann ich nicht hören, was gesprochen wird. Sie haben einen ganz schön großen Hangar, größer als sie brauchen, und nie fährt ein Flugzeug hinein. Alle paar Tage landet eins, das mit einigen Kisten beladen wird und dann wieder abfliegt.«
»Klingt, als wäre es das, was wir suchen.«
»Ja, ich bin mir ziemlich sicher. Sie schaffen auch eine Menge Sachen in den Hangar, obwohl sie sich anscheinend nicht an so ein striktes Schema halten wie deine Freunde in Bogotá. Außerdem kann ich nicht sagen, wie viel Zeug sie gehortet haben, weil alles drinnen gelagert ist.«
»Also bist du so weit?«
»Und ob. Ich habe das … die fraglichen Sachen bis zu ihrem Lieferanten zurückverfolgt und dürfte ohne besondere Probleme an das Zeug rankommen. Damit rechnen die Wachen nämlich nicht. Allerdings bräuchte man eine Armee, um diesen Bastarden auch bloß einen Peso zu stehlen.«
Dass die Sicherheitsvorkehrungen bei Drogendealern nur darauf ausgerichtet waren, einen Diebstahl ihrer Ware zu verhindern, und niemand auf den Gedanken kam, jemand könne versuchen, etwas hinein zu fabrizieren, war ein Punkt, der ihr Vorhaben erleichterte.
»Mein Problem ist bloß, dass ich innerhalb von … sagen wir mal, vier Tagen nach deinem Okay zwar alles erledigen kann, aber nicht weiß, wann es Auswirkungen in Amerika zeigt, wenn du verstehst, was ich meine.«
Hobart lächelte. Die düsteren Szenarien, mit denen er sich im Lauf der letzten Woche geplagt hatte, schienen sich in Nichts aufzulösen. Zumindest vorerst.
»Das ist kein Problem. Ich müsste es schaffen, innerhalb von fünf bis zehn Tagen so weit zu sein, also werden wir die Meldung entsprechend darauf abstimmen. Versuch einfach, dich möglichst ebenfalls an diesen Zeitrahmen zu halten. Wenn dein Produkt ein paar Wochen zu spät kommt, ist es eben ein paar Wochen zu spät. Wo kann ich dich erreichen?«
Swenson nannte ihm die Nummer.
»Ich rufe dich am zweiundzwanzigsten an, um drei Uhr deiner Zeit. Behalte weiter im Auge, was dort unten vor sich geht.«
»In Ordnung«, erwiderte Swenson. »Dann bis nächste Woche .«